Warum die meisten Survival-Tipps gefährlich sind
Survival-Shows, YouTube-Videos und Blogartikel sind voll von praktischen Tipps für das Überleben in der Wildnis. Doch viele dieser Ratschläge sind im besten Fall unvollständig – im schlimmsten Fall lebensgefährlich. Das Problem liegt nicht in den Techniken selbst, sondern in der Logik, die ihnen zugrunde liegt.
Der Mythos der universellen Technik
Ein typischer Survival-Tipp lautet: „Baue einen Unterschlupf, um dich vor den Elementen zu schützen.“ Das klingt vernünftig. Aber dieser Ratschlag ignoriert den Kontext. Die entscheidenden Fragen sind:
- Wann baue ich den Unterschlupf? (Sofort? Nach Einbruch der Dunkelheit?)
- Wo baue ich ihn? (Im Tal? Auf einem Hügel?)
- Wie viel Energie investiere ich? (Eine Stunde? Fünf Stunden?)
- Was ist die Alternative? (Ein Felsvorsprung? Ein dichter Baum?)
Ein aufwendiger Unterschlupf, der stundenlange Arbeit erfordert, kann zu massiver Erschöpfung und Wärmeverlust durch Schweiß führen. Wenn die Nacht nur mäßig kalt ist, war die Investition möglicherweise ein Nettoverlust an Energie und Sicherheit. Der Tipp an sich ist nicht falsch, aber seine Anwendung ohne systemische Analyse ist ein Glücksspiel.
Typische Ratschläge und warum sie scheitern
Tipp 1: „Finde sofort eine Wasserquelle.“
Die Realität: Der menschliche Körper kann mehrere Tage ohne Wasser überleben. Der Drang, sofort Wasser zu finden, führt oft zu unüberlegter Bewegung. Man verlässt einen möglicherweise sicheren Ort, erhöht das Risiko, sich zu verirren, und verbraucht wertvolle Energie. In kühlen, feuchten Umgebungen ist Dehydration ein langsamer Prozess. Hypothermie (Unterkühlung) kann Sie in wenigen Stunden töten.
Tipp 2: „Iss, was die Tiere essen.“
Die Realität: Das ist ein extrem gefährlicher Ratschlag. Vögel und Nagetiere können Beeren und Pilze fressen, die für Menschen hochgiftig sind. Ihr Verdauungssystem ist völlig anders. Ohne 100%ige botanische Kenntnisse ist das Experimentieren mit unbekannten Pflanzen ein russisches Roulette.
Tipp 3: „Folge einem Flusslauf, um Zivilisation zu finden.“
Die Realität: Das kann funktionieren, aber es kann auch in eine Katastrophe führen. Flussläufe führen oft durch unwegsames Gelände, dichte Vegetation, Sümpfe oder Canyons. Der Weg entlang eines Flusses kann deutlich anstrengender und gefährlicher sein als der Weg über einen Bergrücken. Auch hier fehlt die Abwägung: Was ist der Energieaufwand? Was sind die Risiken des Geländes?
Entscheidungslogik vs. Techniken
Das eigentliche Problem ist nicht fehlendes Wissen, sondern fehlende Priorisierung unter Stress.
Das zeigt sich in der Verwechslung von Techniken mit Entscheidungslogik.
- Techniken sind isolierte Fähigkeiten: ein Feuer machen, einen Knoten binden, einen Unterschlupf bauen.
- Entscheidungslogik ist der Prozess, der bestimmt, welche Technik wann, wo und warum eingesetzt wird – oder ob es besser ist, gar nichts zu tun.
Gute Entscheidungslogik basiert auf einer nüchternen Priorisierung von Risiken. Die wichtigste Frage in einer Notlage ist nicht: „Was kann ich tun?“, sondern: „Was wird mich am wahrscheinlichsten als Nächstes töten?“
In den meisten gemäßigten Klimazonen ist die Reihenfolge der realen Gefahren:
- Fehlentscheidungen (Panik, falsche Prioritäten)
- Verletzungen (durch unüberlegte Bewegung)
- Unterkühlung (durch Nässe und Wind)
- Dehydration (nach mehreren Tagen)
- Hunger (nach Wochen)
Der Weg zu besseren Entscheidungen
Anstatt eine lange Liste von Survival-Tipps auswendig zu lernen, ist es effektiver, ein System zur Bewertung von Situationen zu entwickeln. Stellen Sie sich Fragen wie:
- Was ist meine aktuelle physiologische Verfassung (Energie, Körpertemperatur)?
- Was sind die unmittelbaren Gefahren der Umgebung (Wetter, Gelände)?
- Welche Aktion minimiert die größten Risiken bei geringstem Energieaufwand?
- Was passiert, wenn ich einfach hier bleibe und auf Rettung warte?
Diese Art der systematischen Bewertung ist weniger glamourös als das Bauen einer Blockhütte mit einem Taschenmesser. Aber sie ist es, die am Ende über Leben und Tod entscheidet.
Strukturierte Entscheidungsanalyse
Komplexe Situationen lassen sich nur begrenzt „durchdenken". Für eine strukturierte Entscheidungsanalyse unter Unsicherheit wurde das Wildnis-Entscheidungssystem (WES) entwickelt.